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HERBERT EIMERT - epitaph für aikichi kuboyama

für sprecher und sprachklänge

(1960-62)

22'20

herbert eimert (* 8. april 1897 † 15. dezember 1972) studierte 1919-24 in Köln bei Hermann Abendroth, Johann Eduard Franz Bölsche, August von Othegraven Musiktheorie und Komposition. 1923 schrieb er eine Atonale Musiklehre, die 1924 bzw. 1925 als früheste deutsche Zwölftonpublikationen erschienen. seit 1927 mitarbeiter am WDR Köln und als Redakteur bei der Kölnischen Zeitung. 1951 beschloss das Kölner Funkhaus auf Initiative von Eimert und mit Unterstützung von Werner Meyer-Eppler, das Studio für elektronische Musik zu gründen, das Eimert bis 1962 leitete. Elektronisches Studio und »Musikalisches Nachtprogramm« standen in engstem Zusammenhang. Das Studio wurde zu einem Zentrum für die Avantgarde: Stockhausen (der 1963 Eimerts Nachfolger wurde), Goeyvaerts, Pousseur, G. M. Koenig, Kagel, Herbert Brün, Evangelisti, Ligeti u. a. Auch Künstler wie Hans G. Helms, Wolf Vostell, Nam June Paik, Jörn Janssen und der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger gehörten zum Umfeld.
Eimert verfasste 1950 das Lehrbuch zur Zwölftonmusik und gab unter Mitarbeit von Stockhausen die reihe - Informationen über serielle Musik (8 Hefte, 1955-62) heraus. Sein Buch Grundlagen der Reihentechnik erschien 1964. 1951-57 war Eimert Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen. An der Hochschule für Musik in Köln wurde er 1965 Professor und leitete das dort gegründete Studio für elektronische Musik bis 1971. Gemeinsam mit Hans Ulrich Humpert, seinem Nachfolger am elektronischen Studio der Musikhochschule, arbeitete er an dem Lexikon der elektronischen Musik. Kurz vor Fertigstellung des Manuskripts, am 15. Dezember 1972, starb Eimert in Düsseldorf.

quelle: [4]

 

material:

als grundlage diente eimert nebenstehende grabinschrift, ins deutsche übersetzt von günter anders.


du kleiner fischermann
wir wissen nicht, ob du verdienste hattest.
wo kämen wir hin, wenn jedermann verdienste hätte.
aber du hattest mühen wie wir.
wie wir irgendwo die gräber deiner eltern,
irgendwo am strande eine frau
die auf dich wartete
und zuhaus die kinder,
die dir entgegenliefen.
trotz deiner mühen fandest du es gut, da zu sein.
genau wie wir.
und recht hattest du,

aikichi kuboyama,
du kleiner fischermann.

wenn auch dein fremdländischer name kein verdienst anzeigt,
wir wollen ihn auswendig lernen für unsere kurze frist
aikichi kuboyama.

als wort für unsere schande:
aikichi kuboyama.

als unseren warnungsruf:
aikichi kuboyama.

aber auch,
aikichi kuboyama,
als namen unserer hoffnung:
denn ob du uns vorangingst mit deinem sterben,
oder nur fortgingst an unserer statt,
nur von uns hängt das ab.
auch heute noch.

nur von uns,
deinen brüdern,
aikichi kuboyama.

"Epitaph für Aikichi Kuboyama" von Herbert Eimert (1962) arbeitet auch ausschließlich mit Sprachklängen, allerdings sauber in Studio des WDR aufgenommen. Es geht jedoch in der Bearbeitung wesentlich weiter als das Reichsche Stück. Im ZeM-Archiv ist eine Originalaufnahme des Komponisten vorhanden, die eine hervorragende Werkeinführung bietet, indem die einzelnen Bearbeitungsschritte separat demonstriert werden. Trotzdem gehe ich etwas ins Detail: Ausgangsmaterial ist eine Grabinschrift, ins Deutsche übersetzt von Günter Anders. Nur die ersten Worte sind noch verständlich, danach werden alle damals technisch möglichen Verfremdungen eingesetzt, Timestretching, Looping, Pitch-Shifting würden wir heute dazu sagen, dazu jede erdenkliche Art von Schnitten und Neuzusammenstellungen des Audio-Materials, bis weit unter die Silben-Ebene in die Ebene der einzelnen Phoneme hinab. Das Werk ist wohlstrukturiert, zuerst kommt die Einleitung mit dem noch verständlichen Sprecher, die dann überblendet in den ersten Teil der Verfremdung, in dem gleitende Tonhöhenveränderungen dominieren. Im zweiten Teil treten impulsartige, durch die Schneidetechnik erzeugte Verfremdungen hervor, während im dritten Teil sehr tiefe, posaunenartige, zähflüssige Strukturen vorherrschen. Möglicherweise kommt hier die Röhrenfilterbank des Studio-Vocoders mit sehr starker Resonanz zum Einsatz. Eimert sagt dazu in seiner Werkeinführung leider nichts, man kann es nur an Hand der Eimertschen Streichquartettbearbeitungen auf demselben Tonträger vermuten. Den Schlußteil bildet eine langsam aus der Stille hervortretende Struktur, die in den nun wieder verständlichen, abschließenden Worten "als Namen unserer Hoffnung" endigt.
Sicherlich ein hochinteressantes Dokument und schönes Werk, doch eine Frage stellte sich mir dabei schon immer: wenn der größte Teil des zu Grunde liegenden Poems absolut unverständlich bleibt, hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn der Sprecher das "ABC" aufsagt, oder aus der Zeitung vorliest. Akustisch wäre das nahezu gleichwertig. Das ist der Programmhefttrick, oder Aufhängertrick. Einfach so für sich hat diese Musik für den Zuhörer wenig Bedeutung, durch das Programmheft oder durch den Aufhänger "Atomopfer" ist das anders. Während die Silben des Poems geschnitzelt werden, ist der Zuhörer ganz gerührt und denkt an den armen Kuboyama, wie der von der Atombombe zerbrezelt wird. Ein glänzender PR Aufhänger im Zeitalter des kalten Krieges.
Vielleicht hat die Geschichte Eimert ja auch wirklich bewegt, auf jeden Fall hat er hier alles richtig gemacht, das Stück sowieso, und auch die PR, und so ist es in jedem Lexikon als sein Hauptwerk aufgelistet. Möglicherweise würde das Band ohne Poem und mit "ABC" in irgendeinem Archiv vor sich hin schimmeln und wir hätten nie dieses wirklich beispielhafte Stück zu hören bekommen.

quelle: [2]

zeitskizze: oben das gedicht, unten das gesamte stück


100sek
 authentische werkskizze

0'00 text dry
1'40 sound
2'00 processed I
2'23 processed II
3'00 processed III
3'33 processed spaced
4'05 backbeat
4'48 insert
5'03 robo
5'15 wulb
5'27 lightsaber
5'54 insert dry
6'13 radio
6'40 multi freq
7'08 - lightsaber II
7'40 accel grains
8'00 sound
9'50 -
10'00 accel grains II
11'30 -
11'39-55 +dry silbs
12'08 +dry silbs dry
12'10 +dry silbs side
12'12 +dry silbs phased
12'40 grains spatial
12'53 wulb
13'23 - dry silb
13'30 - low.reson.rev
14'11 pvoc.rev fade in
14'43 insert
15'00 - pizza
16'34 insert noise
16'50 -- dry.phvoc "wo gehen wir hin"
16'55 noise
17'11 - grain noise-rit-dry.voc "unsern warnungsruf"
17'23 fadeIn space.voc "diverse"
18'42 insert
19'30 - spacetrack
20'00 - lightsabres III
-22'20

time sek event
1'40 100 20" einzelnes ereignis: elektronik-gong
2'00 120 text abnehmend, elektronik zunehmend, schlußkeil natürlich
            "du kleiner fischermann, ayekichi kuboyama."
            "nur von uns, deinen brüdern"
            "auch heute noch" - "nur von uns hängt das ab"
            "oder nur fortgingst an unserer statt" - "denn ob du uns vorangingst [keil>natürlich] mit deinem sterben"
2'23 143 silben unterschiedlicher tonhöhe
            "du kleiner fischermann, ayekichi kuboyama."
2'29 149 nachlassende verständlichkeit
            {mittelteil}
3'32 212
            "du kleiner fischermann, ayekichi kuboyama."
3'42 222 stillpunkt - fernpunkt
            verhallte ereignisse
4'06 246 trockener neueinsatz
4'48 248 trockener neueinsatz

5'00 300 gestreckter neueinsatz "du kleiner fischermann"
5'15 315 gedämpftes, stark verhalltes ereignis
5'26 326 "lightsaber" neueinsatz, glissandi
5'54 354 trockene kurze ereigniseinsatz, weitere verarbeitungen abwechselnd verhallt und trocken.

6'13 373 rückwärts, gefiltert, abwechselnd verhallt und trocken.
6'30 390 einsatz gefilterte vorwärtsereignis:
            "wir wollen ihn auswendig lernen für unsere kurze frist"
            "wenn auch dein fremdländischer name keinen verdienst anzeigt"
6'39 399 AM: "wir wissen nicht, ob du verdienste hattest, aber du hattest mühen wie wir"
6'47 407 weiter im text, silbenweise mit verschiedenen klangmodellen.

7'08 428 "light saber II", glissandi
7'34 454 trockenpunkt
ab 7'40 460 accelerando kurzer einzeleriegnisse,
-7'54 464 dann übergang zu

8'00 480 langgezogene verhallte und modulierte silben,
8'33 513 trockenpunkt
9'04 544 einsatz einer ebene mit kurzen ereignissen

9'45 585 abriß, stille
            verdichtung percussiver ereignisse mit raumhall
10'46 646 höhepunkt und überlagenrung mit
            "oder ob du uns vorangingst mit deinem sterben (...?)"
11'17 677 "du kleiner fischermann"
-11'36 696 abklingen bis stille

11'36 696 verhallter neueinsatz
11'49 709 einsatz einer silbensequenz aus "ayekichi kuboyama"
12'08 728 trockeneinsatz dreier weiterer silbensequenzen aus "ayekichi kuboyama",
              getrennt durch verschiedene filtereinstellungen
12'14 734 cluster scharfer scherben, rückübergang in
12'40 760 konsistenzwechsel: aus einer niederfrequenten panoramabewegung wird eine starre zuordnung der einzelereignisse zu einzelnen spuren
12'53 773 nach perkussiven ereignissen mir raumhall kleine zäsur ohne pause, lange ereignisse mit langem hall folgen
ab 13'04 784 amplitudenmodulierte sprache taucht wieder auf:
13'24 804 nicht AM: "kleiner fischermann" [rückwärts]

13'30 810 tiefe frequenzen resonieren auf textstellen, langer hall
ab 14'00 840 mittlere frequenzen resonieren auf textstellen, langer hall
@14'42 842 raumhallende, mitunter percussive ereignisse eingestreut, möglicherweise weiterverarbeitung bereits gehörter ereignisse?
16'00 960 trockenpunkt
16'18 978 trockenpunkt

16'34 994 einsatz einer weißen rauschfläche
16'48 1008 abreißen, stille

16'51 1011 AM: "wo kämen wir hin"

16'55 1015 wiedereinsatz der rauschfläche
17'11 1031 einsatz eines extremen ritardando-ereignisses bis
                "...als unseren warnungsruf"

---- abschnitt ---
17'22 1042 beginn mit extrem langgezogener, verhallter textstellen,
18'06 1086 "ob du nur" - "genau wie wir" -"dein fremdländischer name" -  "wo kämen wir hin, wenn jedermann verdienste hätte"
-18'23 1103 anstieg auf mehrfache originalgeschwindigkeit
                "du kleiner fischermann, ayekichi kuboyama"
18'41 1121 [keil] unverständlich

19'28 1128 einsatz dreier phasor-ereignisse trockener cluster schließt ab @19'43
19'50 1150 wieder extrem langgezogene textstellen,
22'12 1332 accelerando-ereignis , beginnend mit "als namen..." (unserer hoffnung)
22'17 1337 ritardantes gegenereignis aus der gleichen textstelle
-22'20 1340 ende

tontraeger:

eimert, herbert:

eimert, herbert: epitaph für aikichi kuboyama (ausschnitt )

literatur und weblinks:

 

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© blausand - last update: di. 23-apr-02